 |
Leseproben

Zugriffszähler seit 5.05.2009

Leseproben:
Auszug aus dem Buch „RECHTLOS“ Seiten 55 bis 58
Dawai Uhri! Erste Begegnungen mit dem Sieger
Der Geschützdonner aus Richtung Woldegk war verstummt. Die Russen hatten die Stadt Woldegk eingenommen und standen nun vor den Toren Friedlands. Wann beginnt unsere Schicksalsstunde, wann überrennen uns die Russen? Dass es so kommen wird, daran gab es keine Zweifel mehr, das war unumstößlich; es blieb nur noch das „Wann ist es so weit?“
Ich schreibe immer „Russen“, das ist keine Ab- oder Bewertung. In unserer täglichen Sprache gab es einfach keine andere Bezeichnung. Selten wurde die russische Armee auch Rote Armee genannt.
Es war kurz nach 20.00 Uhr. Durch plötzlich einsetzenden Geschützdonner und Einschläge in der Nähe wurden wir aufgeschreckt. Schnell auf und runter in den Luftschutzkeller. Hastig rannten wir nach unten. Die Kellertür wurde hinter uns nur eingeklinkt, aber nicht abgeschlossen. Eine abgeschlossene Tür wird Gewalt auslösen und Widerstand bei den Russen signalisieren. Dem wollten wir uns nicht aussetzen. Draußen war es wieder ruhig. Später hörten wir entfernt mehrere Gewehrschüsse.
Egon und ich, wir wollten wach bleiben. Gesprochen wurde nicht, gespannt horchten wir auf die Geräusche, die undeutlich durch die Kellertür und den Lichtschacht zu uns vordrangen. Was wird in den nächsten Minuten, in den nächsten Stunden passieren? Jeder hing den eigenen von Ungewissheit und Furcht gezeichneten Gedanken nach. Irgendwann hat Egon und auch mich der Schlaf doch übermannt. Unsanft wurden wir von unseren Müttern geweckt. Auf dem Holztisch flackerten zwei Hindenburglichter. „Jetzt sind sie da“, sagte meine Mutter. Wir hörten Schritte und Stimmen oben im Hof. Mit lautem Krachen wurde die Tür zum Keller aufgestoßen. Das Sturmgewehr im Anschlag, polterte der erste russische Soldat die Treppe herunter, ein zweiter blieb oben in der Tür stehen. Der uns nun gegenüberstehende Russe zögerte einen Moment, es waren nur Frauen, Kinder und ein alter Mann im Keller. Widerstand war hier nicht zu erwarten, trotzdem blieb das Gewehr im Anschlag. Unsere Oma bot ihm die belegten Brote an. Mit dem rechten Arm schob er Oma und die belegten Brote beiseite. Dann hatte er etwas entdeckt. Er trat auf Opa Post zu, „dawai Uhri!“ Opa Post verstand nicht. Der Soldat etwas lauter, „nu dawai Uhri!“ Er zeigte mit dem Finger in Richtung Taschenuhr, die, an einer Kette befestigt, aus der Uhrentasche der Hose ein wenig hervorschaute. „Ach du willst wissen, wie spät das ist.“ Opa Post hatte kapiert und zog würdevoll seine an der vergoldeten Kette hängende Taschenuhr hervor, klappte den Sprungdeckel hoch, hielt die Uhr gegen das schwache Kerzenlicht und sagte: „Es ist 10 Minuten vor halb drei.“ Dann klappte Opa Post völlig ruhig den Deckel seiner Taschenuhr wieder zu und ließ die Uhr in der Uhrentasche seiner Hose verschwinden. Der Soldat wurde ungeduldig und forderte etwas lauter, „dawai Uhri, dawai“. „Ach, du willst das genauer wissen“, sagte Opa Post. Die gleiche Prozedur wie zuvor wiederholte sich. Opa Posts Bewegungen waren ruhig und bedächtig. Er zog die Taschenuhr hervor, klappte den Sprungdeckel wieder auf, trat dichter an die Kerze heran und las die Zeit ab. „Es ist jetzt genau 2 Uhr und 23 Minuten.“
Bevor Opa Post die Uhr wieder wegstecken konnte, hatte der Russe zugegriffen und zog an der Uhr. Nun war die Uhr allerdings durch die Uhrkette mit einer Gürtelschlaufe der Hose fest verbunden. Der Russe zog kräftiger. Kette und Schlaufe hielten und Opa Post machte zwei Stolperschritte auf den Russen zu. Völlig ruhig sagte Opa Post zu dem Russen, „nu sachte, sachte, du willst dir die Uhr wohl selbst anschauen. Das ist eine gute Uhr. Fünf Jahre Garantie.“ Opa Post löste bedächtig den Verschluss der Uhrkette von der Hosenschlaufe und reichte dem Russen seine Uhr. Der Russe betrachtete die Uhr mit Kette in seiner Hand und bevor Opa Post mit weiteren Erklärungen fortfahren konnte, ließ der Russe die Uhr in seiner Hosentasche verschwinden. „He, das geht aber nicht, das ist …“ Bevor Opa Post den Satz beenden und zugreifen konnte, hatte der Russe ihm mit dem Gewehrlauf vor die Brust gestoßen.
Opa Post taumelte ein paar Schritte rückwärts und kam auf dem Stuhl, der hinter ihm stand, zum Sitzen. Mit geöffnetem Mund und weit aufgerissenen Augen schnappte Opa Post nach Luft. Der Russe indes ging die Treppe hinauf, oben am Treppenansatz wartete noch der andere, und beide verschwanden nach draußen. Wir starrten stumm die Kellertreppe hinauf, zur Tür nach draußen, hinter der die beiden russischen Soldaten verschwunden waren.
„Habt ihr das gesehen? Der hat mir meine Uhr geklaut“, stieß Opa Post hervor, in die Stille hinein. Niemand antwortete. In sich zusammengesunken, in diesem Moment noch älter wirkend, hockte Opa Post auf seinem Stuhl.
Das war unsere erste Begegnung mit dem Sieger.
Auszug aus dem Buch „RECHTLOS“ Seiten 183 bis 188
Einführung zum folgenden Buchauszug:
Unsere Mütter und Opa Post arbeiten in der russischen Kommandantur in Stettin in der Bogislavstraße 15. Tadeus K., ein Ukrainer in russischer Uniform hat die deutsche Schule in Lemberg besucht, er war als Dolmetscher eingesetzt, er wurde ein Freund, alle nannten ihn Teddy.
Egon war mit dem Fahrrad gestürzt und hatte sich ein Knie lädiert.
... Wortreich und sich wiederholend berichtete er von dem Ereignis. Egon sagte nun auch gesturzt. „Mensch das heißt gestürzt, mit ü und nicht mit u“, berichtigte ich Egon. „Man kann aber auch gesturzt sagen“, verteidigte sich Egon. „Na wenn du das meinst, dann musst du auch gefürzt sagen und nicht gefurzt. Das muss sich ja irgendwie ausgleichen.“ Nun versuchte sich Teddy mit dem Wort gestürzt, er wollte es richtig aussprechen, es kam aber, er bemühte sich redlich, immer nur ein gesturzt, maximal ein gestierzt heraus. Wieder war Egon obenauf, „also du darfst gesturzt sagen, du bist ja Ukrainer.“ „Und du bist ein Egon, du darfst von nun an immer gefürzt sagen“, fügte ich ein wenig boshaft hinzu.
Aus dem Fenster rief Oma, wir sollen nach oben kommen. Wir verabschiedeten uns von Teddy und gingen über die Straße auf unser Haus zu. Hinter uns rief Teddy, „vorhin hast du aber mit dem anderen Bein gehinkt.“
Das war am Montag, dem 7. Mai 1945.
Egon, der große Spezialist
Am nächsten Morgen mussten wir Heidi, meine 2-jährige Schwester, mit nach unten auf die Straße oder in den Hof mitnehmen. Meine Mutter, Tante Grete und Opa Post waren wieder drüben in der Kommandantur zum Beutelnähen. „Nehmt die Kleine mal mit, ich hab' hier zu tun, sie muss auch mal raus an die frische Luft“, ordnete Oma an. Das war für uns Jungs eine wirklich gemeine Zumutung, ein zweijähriges Mädchen mit sich herumzuschleppen. Unsere Freiheit, unser Aktionsradius werden eingeengt, beschnitten und begrenzt, Rücksichtsnahme wird von uns gegenüber von Heidi erwartet, nein, sogar verlangt. Also hier hört die Freundschaft auf!
Gedankt sei, wem auch immer, es kam anders als vorher befürchtet. Unten vor dem Haus interessierten sich die russischen Soldaten für Heidi, sie sprachen auf sie ein, tätschelten sie, nahmen sie auf den Arm. Heidi hatte keine Angst, es gefiel ihr. Teddy hatte keinen Wachdienst, er war auch nirgends zu sehen. Wir waren Heidi, auf den Armen der Soldaten, erst einmal los. Ein paar Meter entfernt, klimperten wir auf einem Klavier. Man hatte bereits mehrere auf dem Bürgersteig am Straßenrand abgestellt. Und auf LKWs schleppte man fortdauernd weitere Klaviere an.
Oma schaute plötzlich oben aus dem Fenster, ihr war das gar nicht recht, Heidi auf den Armen der russischen Soldaten zu sehen. „Bringt die Kleine mal wieder nach oben.“ Das wiederum war der Heidi nicht recht, sie plärrte los, als ich sie vom Arm des Soldaten nahm. „Ihr könnt gleich gehen und Wasser holen“, Oma drückte uns beiden je einen leeren Wassereimer in die Hand. Na ja, Heidi waren wir erst einmal los.
Als wir mit den vollen Eimern zurückkamen, hatten sich inzwischen mehrere russische Soldaten auf dem Bürgersteig am Haus, das vor dem unsrigen lag, versammelt. Auf der Straße stand ein LKW voller Matratzen zum Entladen bereit. In der Soldatengruppe ging es ganz aufgeregt zu. Wir kamen näher und sahen, nachdem wir die vollen Wassereimer am Eingang zu unserem Haus abgestellt hatten, Folgendes: Ein Soldat hatte sich mit stabilem Draht auf dem rechten Unterarm einen Wecker befestigt. Den Draht hatte der Soldat mehrfach um Wecker und Arm gewickelt. Der Wecker war zumindest diebstahlsicher auf dem Unterarm des Soldaten befestigt.
Es war ein großer Wecker, solcher mit drei Füßen, und obendrauf zwei großen verchromten Glocken. Zwischen den beiden Glocken befand sich ein Klöppel, der hin und her schwingend, die Glocken zu einem durchdringenden, unüberhörbaren Schrillen bringt. Überspannt war das wirkungsvolle Glockenspiel mit einem verschnörkelten Handgriff. Solch ein Wecker stand früher auf dem Nachttisch von Onkel Walter, Egons Vater. Er benötigte einen solchen ohrenbetäubenden Wecker, er musste meist schon in der Nacht aus dem Bett, denn er war Bäcker in einer Stettiner Backwarenfabrik.
Wir hatten ja unsere Eimer mit dem Wasser in sicherer Entfernung abgestellt und betrachteten nun neugierig die Aktivitäten im Kreis der Soldaten. Der derzeit neue Besitzer des Weckers erklärte voller Stolz den umstehenden Soldaten seine Errungenschaft. Andächtig hörten alle zu. Die Hand zwischen Jackenärmel und Weckerrückseite zwängend, drehte er an den Knöpfen. Ein ganz beachtlich zu bestaunendes Ereignis, die Zeiger über dem Zifferblatt bewegten sich. Zwei Knöpfe ließen sich leider nicht mehr bewegen; denn das Uhrwerk und das Läutewerk waren, sicherlich unbeabsichtigt, voll aufgezogen. Diese beiden Knöpfe waren damit uninteressant, es bewegte sich nichts auf dem Zifferblatt. Aber die anderen beiden Knöpfe waren schon bewundernswert. Besonders der eine, wenn der gedreht wurde, lief der große schlanke Zeiger schnell in die Runde, während der kleine dicke langsam hinterherschlich und sich vom schlanken fortwährend überholen ließ. Jetzt wollte von den Umstehenden jeder einmal drehen. Der Soldat streckte seinen Arm aus, und die anderen Soldaten durften auch mal das Wunderwerk betätigen. Das vollzog sich alles mit lautem Hallo, aber dennoch mit einer gewissen achtungsvollen Zurückhaltung.
An einem solchen Wecker kann man mit einem kleinen Hebel zwischen den beiden Glocken den Klöppel feststellen und damit das Läutewerk blockieren. Ob der Soldat, der gerade zum Zeigerdrehen vorgelassen wurde aus Unvorsichtigkeit oder Neugierde diesen Abstellhebel berührte, konnte später nicht geklärt werden. Jedenfalls schrillte der Wecker gewaltig los. Alles spritzte auseinander und brachte sich in gebührender Entfernung in Sicherheit. Allein zurück blieb der Soldat mit dem schrillenden Wecker am Arm. Fluchend und schreiend versuchte er, dieses gefährliche Ungetüm von seinem Arm abzubekommen. Er zerrte an seinem eigentumssichernden Befestigungswerk, er hopste umher wie Rumpelstilzchen und flehte seine Kameraden um Hilfe an. Keiner half, wir auch nicht. Wir konnten auch nicht, wir schüttelten uns vor Lachen, zum Glück hatten wir vor kurzem unsere Blasen entleert. Der stolze Weckerbesitzer zerrte und riss an Draht und Wecker. Der Draht hielt, er selbst hatte diese solide Befestigung mühevoll zustande gebracht. Und das sehr sorgfältig und robust, wie man jetzt feststellen konnte.
Endlich, endlich konnte er sich befreien, er schmiss den Wecker mit dem noch anhaftenden Drahtgewirr weit von sich weg. Der Wecker kam nahe der Hauswand auf dem Bürgersteig zum Liegen. Er schrillte weiter. Beachtlich wie lange ein voll aufgezogenes Läutewerk die beabsichtigte Wirkung fortsetzen kann.
Jetzt, als der Wecker vom Soldaten, oder umgekehrt der Soldat vom Wecker befreit war, kam ein anderer Soldat,endlich und selbstbewusst zur Hilfe. Mit angelegtem Gewehr zielte er auf den Wecker. Er hatte die Absicht zu handeln, genauso wie es viele tun, wenn der Verstand nicht mehr ausreicht das Problem zu lösen oder zu entschärfen. Man schlägt oder schießt. Ich rief laut „njet, njet“ und fuchtelte mit beiden Armen. Der Wecker hatte inzwischen aufgehört zu schrillen, das Federwerk war abgelaufen. Der Soldat ließ das Gewehr sinken. Egon ging mit gemächlichen Schritten hin zum Wecker, hob ihn auf und befreite ihn vom Draht. Egon behielt den Wecker in der Hand, legte den Sperrhebel vor den Klöppel und zog das Läutewerk wieder auf. Aus sicherer Entfernung wurde sein Tun beobachtet. Egon entriegelte das Läutewerk, ließ es kurz schrillen und stellte es wieder ab. Das wiederholte er mehrere Male.
Egon behielt bei seinen Demonstrationen den Wecker in der Hand. Vorsichtig kamen die Soldaten näher. Sie nickten ihm zu, er möge Gleiches wiederholen. Teddy kam aus der Kommandantur, er rannte auf uns zu. „Was ist hier los?“ Lachend erzählten wir dem Teddy, was geschehen war. Die anderen Soldaten hatten sich vorsichtig zu uns herangewagt. Wir mussten ihnen nun die Weckerfunktionen erklären und nochmals alles vorführen. Teddy übersetzte. Nun war Egon für die Soldaten der „bolschoi spezialiest“ Teddy übersetzte ins Deutsche, Egon war der „große Fachmann“. Egon fühlte sich geehrt. Den Wecker musste Egon dem Soldaten zurückgeben. Nun war der Soldat der große „spezialiest“ und führte seinen später hinzugekommenen Kameraden, die nicht das ganze Ereignis miterlebt hatten, seine Errungenschaft und sein erworbenes Wissen voller Stolz vor.
Wir brachten unsere Wassereimer nach oben und erzählten der Oma, was wir erlebt hatten. „Versucht nicht, mir solche Geschichte aufzutischen. Was habt ihr wieder angestellt? So lange habt ihr zum Wasserholen sonst nie gebraucht.“ Oma glaubte uns nicht. „Geht mal wieder
nach unten und unterlasst den Unfug.“ Abends, als meine Mutter Feierabend hatte und vom Beutelnähen nach Hause kam, sagte sie mehr erleichtert als vorwurfsvoll, „ihr habt uns ja wieder in Angst und Schrecken versetzt, mir blieb fast das Herz stehen als der Soldat das Gewehr anlegte.“ Die zwei Fenster der Nähstube führten zur Straße hinaus. Vom Lärm und dem Geschrei da draußen wurden unsere Mütter aufmerksam. Sie stürzten zu den Fenstern und schauten auf die Straße hinunter. Für sie war die Situation dort unten völlig unklar, es sah von oben sicherlich beängstigend aus, deshalb riefen sie nach Teddy, der sich irgendwo im Hause aufhielt. Als Teddy, wir und die Soldaten wieder friedlich beieinanderstanden, wir ein wenig später die Wassereimer nahmen und ins Haus trugen, war für unsere Mütter die ganze Aufregung in Erleichterung umgeschlagen. Sie setzten sich erst einmal entspannt, oder war es doch entnervt hin, so genau weiß ich das nicht mehr, bevor sie mit dem Beutelnähen weitermachten.
Auszug aus dem Buch „RECHTLOS“ Seiten 335 bis 338
Ich stand nun an diesem erinnerungswürdigen 1. Oktober 1945 auf der südlichen Straßenseite der Pionierstraße zwischen der Gabelsberger- und der Mackensenstraße, und durfte mir die humane Aussiedlung der Deutschen unter Einhaltung aller völkerrechtlichen Vereinbarungen mit ansehen. Es vollzog sich unter lautem Krachen, Fluchen, Poltern, Schreien, Schlägen, Fußtritten, Beraubungen. Die Menschen wurden mit Gewehrkolben und Knüppeln, ja, richtige dicke Knüppel, aus dem Haus getrieben, einige stolperten und fielen hin, das setzte weitere Hiebe und Fußtritte. Draußen wurden sie von der wartenden Menge johlend empfangen. In Sekundenschnelle wurden ihnen die Gepäckstücke entrissen. Wer versuchte, seine Taschen oder seinen Koffer gegen die vielen, das Gepäck wegreißenden Hände zu verteidigen, wurde mit Schlägen bis zur Aufgabe seines Widerstandes zermürbt. Gepäcklos mussten nun die frisch Ausgesiedelten die zweite Stufe der Humanität durchlaufen, nämlich das Spalier. Prügelnd wurde ihnen die Bekleidung vom Leib gerissen, die meisten fielen hin oder wurden zu Boden gezerrt, das erleichterte dann die Entkleidung.
Meine Aufmerksamkeit galt einem weißhaarigen Herrn mit Brille, Mantel und Hut; er erinnerte mich an einen Lehrer aus der zweiten Klasse. Mit Brille, Mantel und Hut, mit einem Koffer und einer Tasche in seinen Händen, sah ich ihn noch aus dem Hauseingang stolpern. Keine fünf Minuten später saß dieser Herr zerkratzt und verbeult, noch bekleidet mit einer Unterhose und einem Unterhemd auf der Bordsteinkante in der Pionierstraße. Er trug keine Schuhe, ein Fuß steckte noch in einem Socken, der andere war sicherlich bei der Entkleidungshilfe abhanden gekommen.
Das war nicht die einzige Begebenheit, die ich miterleben musste. Die Beschreibung dieser humanen Aussiedlung steht synonym für viele andere.
Ein wenig abseits stehend, hatte ich die Szenerie verfolgt. Ich hatte nicht bemerkt, dass von der Seite kommend ein Milizionär an mich herangetreten war. Ich erschrak, als ich auf Polnisch angesprochen wurde. Da ich nicht antwortete, war klar, dass es sich bei mir um einen Deutschen handelte. Ein harter Schlag an den Kopf warf mich zu Boden. Eine schnelle Drehung verhinderte, dass mich der nachfolgende Fußtritt nicht in die Rippen, sondern am Oberschenkel traf. Dank dessen hatte ich mich schnell aufgerappelt und war flink aus der Gefahrenzone heraus. Im Hundertmetersprint war ich anschließend an der nächsten Straßenkreuzung um die Hausecke verschwunden.
Ein Bild verfolgte mich über Jahre, jetzt im hohen Alter denke ich nicht mehr so häufig daran, aber in Erinnerung ist mir dieses Bild genau so deutlich wie am Tag des Geschehens erhalten geblieben: Der grauhaarige ältere Herr, der mich an meinen Lehrer erinnerte, jetzt nach dem Teil1 der Aussiedlung, ohne Brille, mit Unterhemd, Unterhose und mit einem Socken bekleidet, auf der Bordsteinkante in der Pionierstraße sitzend. Zitternd und mit leeren Augen starrte er völlig teilnahmslos vor sich hin. Sein weiteres Schicksal ist mir nicht bekannt. Ich wünsche und hoffe, dass sein weiteres Leben wieder lebenswert wurde.
Am Abend des gleichen Tages kam Oma zu uns in die Henriettenstraße, Egon begleitete sie. Sie berichteten, schon früh kurz nach 6.00 Uhr, vollzog sich die Räumung in der Pestalozzistraße. Unterschieden hat sich diese Aktion gegenüber der in der Pionierstraße nur dadurch, dass die zu enträumenden deutschen Menschen, in diesem Fall, Oma, Opa Post, Tante Grete und Egon, nicht entkleidet wurden. Vielleicht lag das daran, dass die Motivation der hilfsbereiten Polen, in den zeitigen Morgenstunden, also gegen 6.00 Uhr, noch nicht so emotional waren, oder es war für die freiwilligen Beräumungshelfer einfach zu früh. Um 6.00 Uhr morgens schlafen rechtschaffene Polen eben noch.
Jedenfalls mussten sich Oma, Tante Grete, Egon und Opa Post nicht mit Taschen und Koffern rumschleppen, die schon anwesenden hilfsbereiten Polen nahmen ihnen beim Verlassen des Hauses das Gepäck ab. „Selbst meine Schulbrottasche musste ich dem Milizionär übergeben“, berichtete Egon; „die Stulle, die ich noch schnell vom Küchentisch greifen wollte, musste ich liegen lassen, und gescheuert hat mir der Milizionär auch noch eine.“ „Wir haben gefragt, wo wir jetzt hin sollen“, erzählte Oma, „das sei ihnen egal, wurde geantwortet, die Oder sei tief und breit, da passen noch viele deutsche Schweine rein.“ Sie seien nach Zabelsdorf gelaufen, berichtete Oma weiter. Eine deutsche Stadtverwaltung gab es nicht mehr. Suchen Sie sich hier irgendwo in Zabelsdorf, wo noch Deutsche leben, eine Bleibe, hatte ihnen ein Mann angeraten, den sie vor dem ehemaligen Sitz der deutschen Stadtverwaltung angesprochen hatten.
Wo und wohin? Klückmanns und Dahlkes, alte Bekannte, sie waren bereits über 60 Jahre alt, hatten nach dem Kriegsende in Zabelsdorf einen Unterschlupf gefunden, sollten aufgesucht werden und fürs Erste helfen. Beide Ehepaare hatten inzwischen Stettin bereits zu Fuß verlassen.
„Wir können doch nicht weg aus Stettin, wir müssen auf Opa warten, wo sollte er uns ansonsten suchen und finden“, sagte Oma. Also wurden fremde Deutsche, die man zufällig auf der Straße traf, befragt. Man traf nur noch selten Deutsche in den Straßen. Mit Hilfe fremder Menschen fanden Oma, Opa Post, Tante Grete und Egon eine Bleibe in einer leerstehenden Zweizimmerwohnung in der Schnellstraße. Unterstützen und Hilfe geben, war in jener Zeit eine Selbstverständlichkeit. Es wurde nicht nach wie, warum und wieso gefragt, man half. Es wurde nicht lange überlegt und nachgedacht, man half spontan. Der Satz „Not schweißt zusammen“, wurde täglich, stündlich, ja sekündlich praktiziert. So halfen fremde Menschen der Oma und Tante Grete. Man half auch mit anderen Dingen, die man für ein vorübergehendes Verweilen in der neuen Bleibe benötigte. ...
Der Webmaster (auch in Stettin geboren) hat das Buch mit großem Gewinn gesesen und kann es nur empfehlen!
Das Buch können Sie für direkt beim Autor bestellen: Kontakt:
Tel.: 03332-414687
Fax: 03332-422017
Bestellungen über den Buchhandel oder Amazon sind ebenfalls möglich.
|