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unveröffentlichter Text von Willi Grünberg


 

Neuanfang  (Arbeitstitel) oder Rechtlos Band 2

Ein damals elfjähriger Zeitzeuge schildert seine Erlebnisse aus der Zeit vom März 1946 bis ...

 

  Eigentlich wäre gar nichts passiert, hätte Alfred Ritter nicht die Seite an der geöffneten Schiebetür des geschlossenen Güterwaggons in Fahrtrichtung, sondern  die gegenüberliegende Seite, also die der Fahrtrichtung abgewandten Seite, bevorzugt.  Alfred konnte das nicht wissen, woher auch, er war erst acht Jahre alt, und so nahm die sprühende Angelegenheit ihren Lauf.  Die Empörung, die Aufregung und die kräftige Backpfeife der erwachsenen Schwester hätten den Alfred Ritter niemals getroffen und ihn in beschämende Ratlosigkeit gestürzt.  Nun war es zu spät, es war geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen.

  Seinen Kopf mit den kurzen weißblonden Haaren hatte Alfred Ritter tief zwischen den auf den angezogenen Knien verschränkten Armen verborgen.  Alfred hockte abseits von uns auf einem Matratzenstapel, er schämte sich.  Er weinte still.  Einzelne Tränen tropften lautlos zwischen seinen leicht gespreizten Beinen hindurch auf die Matratzen und zeichneten dort kleine dunkle Wasserflecken.

  Wir, die übrigen Kinder, konnten dem Alfred auch nicht beistehen.  Wie auch?  Unser anfänglich fröhliches Lachen verstummte spätestens bei der kräftigen Backpfeife, die Alfred von seiner Schwester erhalten hatte.

  Der Zug hatte kräftig an Fahrt zugenommen.  In einer langen Rechtskrümmung der Gleisstrecke konnten wir die Lokomotive und die ersten, die vorn eingeordneten Lazarettwagen sehen.  Minute um Minute kamen wir unserem Ziel näher.  Wie lange noch mussten wir in diesem Waggon hocken?  Wie Lange noch?  Mehr als 110 Stunden waren wir in diesem Güterwaggon, zumeist mit geschlossen Toren, in völliger Dunkelheit eingesperrt. Das war nun vorbei, wir hatten unsere Freiheit wieder, brauchten uns nicht mehr zu verstecken, brauchten keine Angst mehr haben.  Jeder könnte aussteigen und hingehen wohin es ihn in den Sinn kommen würde, wir waren frei, brauchten weder Verfolgung, Gewalt noch Willkür fürchten.  Jetzt bei dieser hohen Fahrtgeschwindigkeit ging das mit dem „Aussteigen und dem einfach irgendwo Hingehen” natürlich nicht, jeder von uns hätte das in Eberswalde beim Halt des Zuges machen können.  Der Zug wird wieder irgendwo auf der weiteren Strecke bis Beelitz-Heilstätten halten, da bieten sich erneute Gelegenheiten, einfach auszusteigen und die eigenen Wege finden.

  Das Wissen darüber erlöste uns, machte uns frei von den würgenden Ängsten der letzten Tage und Wochen.  Frei waren wir von nun an!  Das löste ein unbeschreibliches Gefühl von Leichtigkeit, Bewegungsfreude und Wohlempfinden aus.

  Bei den Erwachsenen wuchs das Bedürfnis, sich den anderen mitzuteilen.  Und so saßen oder standen sie, die Erwachsenen, in kleinen Gruppen und redeten und befreiten sich von dem lastenden Druck der letzten Wochen und Monate.

  Wir Kinder hatten in der Waggonmitte, der offenen Schiebetür gegenüber, aus Matratzenteilen eine Art Sofa mit Rückenlehne aufgeschichtet.  Darauf saßen wir und schauten auf die vorüberfliegende Landschaft.  Vereinzelt brachen Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und tauchten die Landschaftsbilder in wärmere, freundlichere Grautöne.  Es war der 25. März 1946, und das Grün der aufgegangenen Saaten auf einigen Feldern belebte das allgegenwärtige Grau.  Ein neues Jahr in der Natur und für uns ein neues Leben hatten begonnen.

  Wir Kinder hier im Waggon, das waren meine fast dreijährige Schwester Heidi, Gisela Krämer, sieben Jahre alt, Alfred Ritter, acht Jahre und Günter Stefan, mit elf Jahren, gleichaltrig mit mir.  Wir waren der Rest der einst ansehnlichen deutschen Kinderschar aus dem russischen Hospital, in dem unsere Eltern arbeiteten.  Als Anfang Februar 1946 die Verlegung des Hospitals von Stettin nach Beelitz-Heilstätten bekannt wurde, begannen die Russen die deutschen Angestellten des Hospitals mit ihren Familien über die neue Grenze in die sowjetische Besatzungszone im übrig gebliebenen Deutschland zu bringen.  Die Russen überließen ihre deutschen Arbeitskräfte nicht den Polen.  Eine bemerkenswerte humane Handlung.  Wie es den Deutschen unter den Polen ergangen wäre, das habe ich synonym in dem Buch „Rechtlos” geschildert.  Auf der regionalen politischen Bühne gab es in Anbetracht dessen, heftige Proteste der Polen, die sich auf internationale Vereinbarungen und auf eine „humane” Aussiedlung, für die sie eigentlich, die Polen, zuständig wären, beriefen.  Die Russen beachteten die Proteste nicht, sie handelten, wahrscheinlich aus Erfahrung und Wissen.  Ich sage an dieser Stelle nochmals: Danke!

  Der Zeiger der großen Bahnhofsuhr auf dem Bahnsteig in Eberswalde Sprang auf 14:04 Uhr, als sich unser Zug mit den Lazarettwagen, den Personen- und Güterwaggons und  nahe dem Ende unseres Zuges, unser geschlossener Waggon mit den 38 Flüchtlingen aus Stettin, mit einem Ruck wieder in Bewegung setzte.  Auf das vereinbarte Signal, ein sehr langgezogener Pfiff der Lokomotive, waren wir alle wieder zu unserem Waggon gerannt und hinein geklettert.  Ein längerer, etwa zweistündiger Aufenthalt war uns durch den Starschina und Dr. Pawlowski angekündigt.  Nun waren es über vier und eine halbe Stunde geworden.  Bei einigen Erwachsenen breitete sich durch die lange unerklärliche Wartezeit wieder eine gewisse Unruhe aus, die Erlebnisse der letzten Tage waren innerlich noch nicht verarbeitet.  Tiefes Aufatmen, es ging weiter, unserem Ziel entgegen.

  Den Aufenthalt in Eberswalde hatten wir umfassend genutzt, uns endlich wieder ordentlich gewaschen.  Dass das Wasser in den Sanitäranlagen im Bahnhofsgebäude, durch den Bahnsteigtunnel hindurch, und in dem Häuschen am Bahnsteigende, eiskalt war, das störte niemanden, im Gegenteil, es erfrischte uns.  Und so ist es verständlich, wir Kinder richteten übermütig schreiend und tobend ein kleines Wasserbad auf den Fußböden an.  Die Erwachsenen schimpften: „Benehmt euch, ab jetzt herrscht wieder Ordnung, wir sind in Deutschland!“  Das war uns selbst klar, aber die Tatsache, wieder in Deutschland zu sein, war doch die eigentliche Basis für unsere übermütige laute Wasserspritzerei.

  Gerade das, dass wir wieder in Deutschland waren, ließ uns anschließend ausgelassen und recht laut die Bahnhofshalle und den Bahnhofsvorplatz erkunden.  Noch weiter wegzulaufen, war uns verboten, das hätten wir uns auch nicht getraut.  Keiner wollte zurückbleiben obwohl sich hier ein unbeschränktes, abenteuerliches Leben vollzog.  Hinter zwei Fahrkartenschaltern saßen ältere Frauen.  Eine der Frauen unterhielt sich mit einem hinter ihr stehenden Eisenbahner in Uniform, die andere Frau am Fahrkartenschalter schrieb etwas auf und reichte den kleinen Zettel, vielleicht war das der Fahrschein, einer vor dem Schalter stehenden Frau mit zwei kleinen Kindern.  Neben der Ausgangstür zum Bahnhofsvorplatz hatte ein alter Mann mit Vollbart auf einem Fenstersims Tageszeitungen zum Verkauf ausgebreitet.  Unter Zeitungen verstehen wir mehrere unterschiedliche Presseerzeugnisse, aber es war nur ein einziges Tagesblatt in mehreren Exemplaren. TÄGLICHE RUNDSCHAU prangte in großen Lettern zweifach unterstrichen auf der Titelseite.  Darunter, einfach unterstrichen, „Zeitung für die deutsche Bevölkerung“, dann durch den rechten Rand begrenzt, „Montag, 25. März 1946“ und ganz oben in der rechten Ecke, „Preis: 15 Pfg“.  Der Leitartikel verkündete vom demokratischen Aufbau Deutschlands.  An den genauen Wortlaut erinnere ich mich nicht mehr, aber noch genau an die Formulierung, mit der ich damals nichts anzufangen wusste, „demokratischer Aufbau“.  Keinesfalls wurde über einen sozialistischen Aufbau berichtet bzw. ein solcher verkündet. „Demokratischer Aufbau“, ganz einfach!

  Ein Zug war an einem der Bahnsteige eingefahren.  Das laute Poltern der Räder auf den Schienen schalte dumpf aus der Bahnsteigunterführung zu uns herauf, das Quietschen der Bremsen und die darauf folgende abrupte Stille bestätigte, dass soeben ein Zug eingefahren war.  Wenige Augenblicke später quoll ein gewaltiger Menschenstrom aus der Bahnsteigunterführung herauf, durch die Bahnhofshalle hindurch und hinaus auf den Bahnhofsvorplatz.  Wir waren zur Seite getreten.  Graue, zumeist dürre Menschen aller Altersgruppen mit eingefallenen ausdruckslosen Gesichtern, hasteten eilig an uns vorbei.  Die meisten trugen schlaff herunter hängende Rucksäcke auf ihren Rücken.  Mit diesem Menschenstrom wurde Herr Grynowski regelrecht mit hinauf in die Bahnhofshalle gespült.  Er konnte dem Schieben und Hasten nicht entweichen.  Er sah uns staunende Kinder in der Nähe des Zeitungsverkäufers stehen, er stolperte, er hatte Mühe sich aufrecht zu halten und seitlich aus dem Menschenstrom hinaus zu kommen.  Herr Grynowski atmete schwer, sicherlich hatte das Entweichen aus der hastenden Menge einige Kraft gekostet.  Immerhin, er war, das wusste ich, bereits über 60 Jahre alt.  

  Der Zeitungsverkäufer schaute Herrn Grynowski abschätzend an, der hatte keinen leeren Rucksack auf den Rücken und nichts in seinen Händen.

„Die Berliner Hamsterer fallen wieder ein,“ sagte der Zeitungsverkäufer.  „Na ja“, fügte er hinzu, „kann man auch verstehen, der Hunger, nun versuchen sie in den umliegenden Dörfern etwas zum Essen zu erbetteln.“  Herr Grynowski schaute den Zeitungsverkäufer verständnislos an.  „Sie sind wohl nicht von hier?“ fragte dieser.

Herr Grynowski berichtete von unserer Odyssee, wir Kinder liefen hinaus auf den Bahnhofsvorplatz.  Von den Hamsterern war nichts mehr zu entdecken.  Links in etwa 150 Metern Entfernung fuhr ein Oberleitungsbus die leichte Steigung hinauf in Richtung der den Gleiskörper überspannenden Brücke.

  „Ein hoffnungsvoller Neubeginn“, sagte Herr Grynowski als wir zurückkamen.  Er war einen Schritt näher an den Zeitungsverkäufer herangetreten und kaufte eine Zeitung.  „Gibt es noch weitere Tageszeitungen?“ fragte er.  Der Zeitungsverkäufer schüttelte verneinend den Kopf.  „Na ja, zumindest ist der Anfang gemacht, es geht aufwärts,“ verkündete Herr Grynowski, die Zeitung wie ein Triumphator über seinen Kopf schwenkend und verschwand abwärts in den Tunnel zu den Bahnsteigen.

  Jahre später las ich, de „TÄGLICHE RUNDSCHAU“ erschien erstmalig am 15. Mai 1945 mit dem Untertitel „Frontzeitung für die deutsche Bevölkerung,herausgegeben vom Kommando der Roten Armee.“

  Nun zurück in unseren jetzt wieder rollenden Waggon.

Wir, die 38 Flüchtlinge, saßen verteilt auf unseren zurechtgelegten Matratzen und schauten durch das offene Waggontor auf die vorbeieilende Landschaft.  Einige Erwachsene unterhielten sich wieder, sichtbar entspannt, ohne den Blick von der offenen Waggontür abzuwenden.  Mein Vater hatte noch in Eberswalde eine stabile Holzbohle in Brusthöhe vor der Waggontür befestigt und in Bodenhöhe ein schmaleres Brett. „Zu eurer Sicherheit, aber trotzdem geht mir keiner zu nahe ran, oder lehnt sich dagegen“, fügte mein Vater hinzu, „wenn diese Absperrung zu stark belastet wird, besteht wieder ernsthafte Gefahr.  Denkt daran!“  Der Waggon mit der Tischlereiausrüstung und diversen Hölzern lief im mittleren Teil unseres Zuges, gleich hinter den verladenen Kraftfahrzeugen.

  Wir Kinder saßen in einer Reihe auf unserem Matratzensofa der geöffneten Tür gegenüber.

„Du, ich muss mal,“ raunte Alfred Ritter dem neben ihm sitzenden Günter Stefan zu, stand auf und stellte sich, die linke Schulter an die Waggonwand gelehnt, mit der rechten Schulter leicht die Absperrbohle berührend, völlig unbekümmert hin. Die Erwachsenen schauten kurz auf, niemand sagte etwas.  Ebenso unbemerkt blieben Alfreds Bewegungen mit der rechten Hand in Hüfthöhe.

  Rechts neben der geöffneten Waggontür saßen Herr Grynowski und Frau Krämer.  Herr Grynowski hielt mit beiden Händen die eng zusammengefaltete Zeitung auf seinen Knien fest, so dass der einströmende Fahrtwind diese nicht fortriss.  Beide unterhielten sich angeregt.  Plötzlich wurden beide durch einen feinen Sprühregen benetzt.  Wo kommt das denn her?  Herr Grynowski und Frau Kramer schauten sich verwundert an uns wischten sich mit den Händen die unerwartete Nässe aus den Gesichtern.  Der Sprühregen strömte weiter durch die offene Waggontür.  Draußen ließen die Strahlen der tiefstehenden Sonne keinen Regen erkennen.  Herr Grynowski erhob sich, er wollte die Ursache der feinen Benätzung ergründen.  Jetzt entdeckte er die ursächliche Quelle.  „Alfred, du Ferkel, hör sofort auf, stell dich hier auf diese Seite, damit dein Strahl nicht als Dusche in den Waggon treibt!“  Aber Alfred konnte nicht aufhören und die Seite wechseln, die noch in der Blase befindliche Menge und der Druck waren einfach zu groß.  Nun hatte auch Frau Krämer den nassen Ursprung mit dem Verursacher erkannt.  „Alfred, du Riesenschwein, bist du denn vollkommen bescheuert?“ schrie Frau Krämer.  Sie wollte sich auf den Alfred stürzen.  Herr Grynowski hielt sie mit ausgestrecktem Arm zurück.  Durch das Geschrei war auch Alfreds große, bereits verheiratete Schwester, Frau Radetz aufgeschreckt.  Sie sprang zum Alfred hin, packte ihn mit festen Griff am Kragen und riss ihn zurück in den Waggon.  Das war ein Fehler, denn Alfred war noch nicht völlig entleert, und so richtete er in den Waggon hinein noch einen zusätzlichen Wasserschaden an.

  Wir Kinder konnten nicht mehr vor lautem Lachen, erst die kräftige Backpfeife durch die große Schwester auf Alfreds Wange und ihr zorniger Blick, der uns unvermittelt traf, lies unser Lachen verstummen.  Lachen kann man nicht einfach abschalten, wenn wir Kinder uns nach dem Ereignis gegenseitig anschauten, brach das Gelächter wieder aus uns heraus.  Ich hatte den Eindruck, auch einige der Erwachsenen hatten Probleme, ihr Lachen zu unterdrücken, sie drehten sich weg, doch ihre Körper zuckten sichtbar.  Auch mein Vater, den ich heimlich beobachtete, gehörte zu den Lachunterdrückern, vielleicht hatten wir Kinder mit unserem herzhaften Lachen einige Erwachsene angesteckt.  Lachen steckt an, so sagt man doch!  Meine Mutter indes schaute mich ernst und vorwurfsvoll an, wahrscheinlich, traute sie mir eine Anstiftung zum eben beendeten Geschehen zu.

  (Ein Lächeln vermag ich auch jetzt nach Jahrzehnten, in Erinnerung an jene Momente nicht verbergen. Ich bitte um Nachsicht.)

  Die folgende, unwissentlich von Alfred ausgelöste Aufregung, brachte Herr Grynowski durch vermittelnde Worte wieder zum Abklingen.  Auch meine Oma stellte sich schützend vor Alfred, darauf war ich richtig stolz.  „Beruhigt euch, er ist doch noch ein Kind, und dass das alles reinwedelt, das konnte er nicht wissen, er wird sich selbst darüber am meisten erschreckt haben, und so schlimm ist es ja auch wieder nicht, ernsthaft verletzt wurde schließlich niemand“, befand Oma.

  „Aber aufregend schön war das doch“, flüsterte mir Gisela Krämer breit grinsend zu.

  Die Eisenbahnstrecke Berlin-Stettin ist eine der ältesten in Deutschland und war zweigleisig und für höhere Geschwindigkeiten ausgebaut.  Jetzt fehlten die Schienen für ein Gleis.  Die Schwellen lagen noch im Gleisbett und die Befestigungseisen verstreut zwischen dem Schotter.

  Im Bahnhof Bernau kam unser Zug auf einem Nebengleis, jetzt Ausweichgleis, zum Halten. Neben unserem Zug stand bereits ein besetzter Personenzug, er musste auf die Gegenzüge warten.  Das waren wir mit unserem Lazarett-Güterzug und ein Schnellzug, der uns hier überholte.  Auf dem dahinter liegenden Gleisen beobachteten wir Züge der Berliner Stadtbahn, kurz S-Bahn genannt.  Das frischte meine Erinnerungen aus den Jahren 1939 und 1940 wieder auf.  Oma hatte mich zu Besuchen ihres Sohnes Werner mit nach Berlin genommen.  Die Bahnfahrt, das war etwas Einzigartiges; ohne Halt hatte der Schnellzug in rund 90 Minuten die 135 Kilometer Bahnstrecke bewältigt.  In Stettin wurden die Schnellzüge meistens mit einer Schiebelok über eine kurze Strecke auf eine hohe Geschwindigkeit gebracht.  Es war immer faszinierend, wenn die kleinere Schiebelokomotive laut schnaufend, in schnellen Stößen gewaltige Dampfwolken ausstoßend, den Schnellzug richtig in Schwung brachte.  Wenig später kam die Schiebelok dann zurück und durchfuhr den Bahnhof.  Sie war dann ganz leise und hinterließ einen abgekämpften Eindruck.

  Onkel Werner wohnte mit seiner Familie im Stadtteil Hohenschönhausen.  Dank Omas großzügig gehandhabter Reisekasse ist Onkel Werner mit mir jeweils einen Vormittag mit der S- und der U-Bahn durch die Stadt gefahren.  Straßenbahnen hatten wir in Stettin auch, aber die S- und U-Bahn-Fahrten wurden zum unvergesslichen Erlebnis.  Stolz berichtete ich anschließend über diese gewaltigen persönlichen Erlebnisse, dass die S-Bahn auch kilometerweit unter der Erde und die U-Bahn, die Untergrundbahn, endlose Strecken auf Stelzen hoch über den Straßen, den erübrigen Fahrzeugverkehr unter sich lassend, die Straßen selbst entlang fuhr.  Das wollte mir niemand glauben.  Oma bestätigte meine Berichterstattung, jedoch die anderen Kinder sahen die Oma nur ungläubig an.  Zu widersprechen, so wie bei meinem Bericht, das getrauten sie sich gegenüber der Oma nicht.

  Der S-Bahnverkehr, ebenfalls des zweiten Gleises beraubt, begleitete uns, rechts neben unserem Zug verlaufend, durch Berlin hindurch bis zum Bahnhof Grunewald.

  Auf der ganzen Strecke, ab Pankow-Heinersdof beginnend, begleiteten uns Trümmer und Ruinen . „Sind wir jetzt wieder zu Hause in Stettin bei den ollen Polen?“ fragte Heidi.  Aus ihren weit aufgerissenen Augen traf mich ein ängstlicher Blick.. „Nein, wir fahren jetzt durch Berlin und werden bald unser Ziel, Beelitz- Heilstätten erreichen.“  „Wirklich?  Hier ist doch auch alles kaputt!“  Heidi zeigte mit dem Finger nach draußen auf die ausgebrannten, zertrümmerten Häuser, die zersplitterten Bäume, auf die Zerstörungen, auf all das, was sich durch die offene Waggontür unseren Blicken im Vorüberfahren darbot.  „Sind hier auch die bösen Polen?“

  Polen waren für Heidi etwas Fürchterliches.  Sie musste im Alter von zweieinhalb Jahren erleben, wie ihre Mutter misshandelt wurde, sie musste mit ansehen, wie ihr Bruder geschlagen wurde.  Erlebnisse, die sich tief im kindlichen Erinnerungsvermögen festkrallen.  Bis ins hohe Alter, so sagte Heidi später, hatte sie diese Bilder noch deutlich vor den Augen.

  Meine Beruhigungsversuche erzielten kaum Wirkung, es blieben nur Versuche.  „Wer hat denn hier auch alles kaputt gemacht, wer war das?“  Heidi blieb hartnäckig.  Meine Erklärungen zum Krieg und über die Bomben waren sicherlich recht schwach.  Oma musste, mich unterstützend, eingreifen.  Restzweifel blieben erhalten, denn Heidi rückte näher an mich heran.  Sie suchte körperlichen Kontakt, wenn Angst oder Misstrauen in ihr aufstiegen.

  Im Bahnhof Grunewald war unser Zug auf einem Nebengleis, abseits von Bahnsteigen und Gebäuden, zum Halten gekommen.  „Wir haben hier nur Lokwechsel, bleibt also in unmittelbarer Nähe,“ sagte der Starschina.  Er kam in Begleitung von Dr. Pawlowski bis fast ans Ende des Zuges, wo unser Waggon eingeordnet war.

  Inzwischen war es dunkel und merklich kühler geworden.  Letztmalig schichteten wir die Matratzen für den Nachtschlaf um, das Schiebetor des Waggons wurde geschlossen.

  Es sollte die letzte der sechs Nächte in diesem Waggon werden, es wurde auch die letzte.

  In meine Decke eingehüllt, lag ich noch lange wach.  Ich dachte an Egon, an seine Mutter, an seinen Vater, der als ehemaliger Marinesoldat noch verschollen war und an Opa Post.  Knapp ein Jahr waren wir beide, Egon und ich, zusammen; ein Jahr voller Erleben und Abenteuer, manchmal absurd und gefährlich.  Ein Jahr voller Umwälzungen und Unbegreiflichkeiten.  Wo mag Egon jetzt stecken?  Sehen wir uns jemals wieder?

  Dann war ich eingeschlafen.

  Aufgeweckt wurde ich von harten Stößen, die den Waggon erzittern ließen und leisen Rollgeräuschen.  Das Waggontor war einen Spalt geöffnet und durch den Überwurfhaken gesichert.  Durch den schmalen Torspalt fiel Tageslicht in den Waggon hinein.  Ich sprang auf und wollte zum Torspalt stürzen.  Meine Mutter hielt mich fest.  „Wir können alle nur sehr wenig von draußen erkennen, das muss im Augenblick genügen.“  Unser Waggon rollte langsam, wir konnten hinter mehreren Gleisen unterhalb des Bahndammes Gärten, einen schwarzgrauen Weg und dahinter einen mit Efeu bewachsenen hohen Zaun erkennen.  Dann fuhren wir an einer auf zwei Stelzen stehenden großen weißen Blechtafel vorüber.

 

Beelitz-Heilstätten

  Jubel brach aus.  Den letzten Jubel mit deutscher Beteiligung erlebte ich am 9. Mai 1945.  Der Krieg war beendet.

  Am liebsten wären wir alle gleich aus dem Waggon gesprungen, das ging nicht, unser Waggon rollte.  Unser Zug wurde auseinander rangiert, die Wagengruppen wurden auf die Entladegleise und an die Entladerampen gesetzt.

  Wann dürfen wir raus?  Sekunden können zu Minuten, zu Stunden werden.  Endlich, unser Waggon kam zum Stillstand.  Da stand auch schon Dr. Pawlowski.  „Wir sind da“, rief er.  Die Waggontür wurde förmlich aufgerissen, alles sprang nach draußen.  Die Frauen stürmten wie eine Riesenwoge auf Dr. Pawlowski zu, sie umarmten ihn, küssten ihn auf die Wangen, rissen ihn fast um!  Armer Dr. Pawlowski!

  Der Starschina kam später zu seiner deutschen Gruppe.  Er musste zuvor das Auseinanderrangieren veranlassen und bestimmen, wo die einzelnen Waggons oder Wagen-Gruppen abgestellt werden mussten.  Auch den ahnungslosen Starschina bestürmten die Frauen, nicht mehr so heftig wie den Dr. Pawlowski, der Adrenalinspiegel war schon etwas gesunken.

 

  Endlich!  Wir sind da.  Nur da.  Angekommen noch lange nicht!  Das ist ein anderes Kapitel.  Im Augenblick zählte einzig und allein, wir sind da, wir haben das erste Ziel erreicht, wir brauchen keine Furcht mehr haben, wir sind frei!

  Der geschlossene Güterwaggon, die sechs Nächte und die ca. 132 Stunden in seinem Inneren gefangen, gehörten von nun an für uns 38 Menschen, in die Vergangenheit.

 

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